Internationale Konferenz “Angewandte Bürgerbeteiligung – wie es wirklich geht”

Ludwigsburg, 18. – 19. April 2013

“Bürgerbeteiligung aus europäischem Blickwinkel”

Beitrag von Dr. Andreas Kiefer Generalsekretär des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates

Ich freue mich, heute bei Ihnen in dieser Konferenz zu einem Thema sprechen zu können, das in den letzten Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der politischen Debatte in Europa gerückt ist: das Bedürfnis und der Wunsch nach einem erneuerten demokratischen Modell, das auf ständiger und umfassender Information und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in den Governance-Prozessen basiert. Ich bedanke mich bei den Veranstaltern, zu dieser Diskussion beitragen zu können und die Perspektiven des Europarates vorzustellen, einer Organisation von 47 Staaten, die sich der Stärkung der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit quer über unseren Kontinent verschrieben hat.

Ich werde dieses Thema aus der Sicht der bürgernächsten Ebene beleuchten, jener der Städte und Regionen, wo der direkte Kontakt und die Interaktion zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den lokalen politischen Verantwortungsträgern greifbar sind und wo politische Entscheidungen unmittelbar und konkret auf das Leben der Menschen wirken. Diese Ausführungen gründen auf den Erfahrungen und der Arbeit des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas.[1]

Im Rahmen des Europarates arbeitet der Kongress der Gemeinden und Regionen als paneuropäische Versammlung von 636 gewählten lokalen und regionalen PolitikerInnen an der Sicherung der lokalen Demokratie – durch Wahlbeobachtungen und Monitoring-Berichte, durch Empfehlungen an die Mitgliedstaaten und Kooperationsprojekte - sowie an der Förderung und Weiterentwicklung der Bürgerbeteiligung, und zwar auf lokaler Ebene, wo die Auswirkungen unmittelbar spürbar sind und sichtbar werden.

Diese bürgernächste Ebene bildet auch ein innovatives Testfeld für Bürgerbeteiligung, bevor diese auf nationaler und eventuell europäischer Ebene als „gute Praxis“ erkannt und in weiteren Bereichen eingeführt werden. Allerdings: jede Situation, jede Kultur braucht ihre spezifische Lösung, hier kann es keinen „europäischen Maßanzug“ geben, der überall gleichermaßen Akzeptanz findet und funktioniert.

Ein Mix von Krisen

Es ist paradox, dass der Wunsch nach einem stärker partizipatorischen Demokratie-Modell durch die verschiedenen Krisen, die Europa derzeit betreffen, an die Oberfläche gekommen ist. Zunächst und in erster Linie hat die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise dramatische Auswirkungen auf die europäischen Wirtschaften und bedroht den sozialen Zusammenhalt in unseren Gesellschaften und damit die Grundlagen des europäischen Demokratie-Modells. Eine der Hauptauswirkungen der Wirtschaftskrise ist eine soziale Krise, in der eine große Zahl von Familien unter wirtschaftlichen Druck geraten und die Arbeitslosenzahlen steigen.

Vertrauensverlust „in die Politik“

In besonderer Weise aber haben diese Krisen die Grenzen des bestehenden demokratischen Systems aufgezeigt und führten zu Misstrauen der Bevölkerung in die Demokratie und ihre politischen Repräsentanten. Aufgrund einiger ernsthafter funktioneller Mängel waren die demokratischen Institutionen nicht in der Lage, diese Krise zu antizipieren, zu lindern oder in der entsprechenden Weise auf die Krise(n) zu reagieren. So entstanden Probleme für die Menschen, denen die Politik eigentlich dienen sollte, die sie beschützen sollte. Auf Grund des zunehmenden Ungleichgewichts an Macht zwischen der Wirtschaft und der demokratisch legitimierten Politik werden wichtige Entscheidungen außerhalb der Parlamente und außerhalb des demokratischen Prozesses – inklusive Sozialpartnerschaft – getroffen. Immer mehr weitreichende Entscheidungen werden von nicht demokratisch gewählten und damit nicht legitimierten Akteuren getroffen. Und diese – teilweise unternehmenspolitischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen mit makro-ökonomischen Konsequenzen -, so hat es den Eindruck, präjudizieren in der Folge politische Verantwortungsträger der Exekutiven. Diese wiederum haben alle Hände voll zu tun, ihre Parlamente dazu zu bringen, diese de facto kaum veränderlichen Entscheidungen abzusegnen. Und in der Argumentation haben der Bürger und die Bürgerin häufig das Gefühl, dass die gute alte Ausrede namens „Tina“ bemüht wird, um Diskussionen über Alternativen aus dem Weg zu gehen oder unter Hinweis auf Termindruck zu vermeiden:  „There is no alternative“.

Dominanz der Exekutiven?

Als Konsequenz zweifeln die Menschen an der repräsentativen Demokratie, weil sie sich nicht in der Lage sehen, den politischen Entscheidungsprozess zu Fragen zu beeinflussen, die Ihnen besonders wichtig sind und die direkte Auswirkungen auf ihr tägliches Leben haben. Dies ist auch der Grund für das abnehmende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Politikerinnen und Politiker und in politische Parteien. Die Menschen haben das Gefühl, von den Politikern – hier sind wohl in erster Linie wieder die Exekutiven zu nennen - nicht angehört und nicht ernst genommen zu werden. Sie haben das Gefühl, keinen Zugang zu einem System zu haben, das taub und blind für die Sorgen und Anliegen der Bürger von der Straße geworden scheint.  In den letzten Jahrzehnten haben auch die politischen Parteien einen erheblichen Vertrauensverlust erlitten.  Politische Parteien, die ein wesentlicher Bestandteil der repräsentativen Demokratie sind, und die sich als „staatstragend“ verstehen und das politische System und seine Entscheidungen repräsentieren und verteidigen, werden von populistischen Bewegungen in nahezu allen europäischen Staaten herausgefordert.

Conclusio: das traditionelle System der repräsentativen Demokratie erfüllt die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht (mehr) und dient Ihren Bedürfnissen nicht mehr ausreichend.

Überdehntes „Legitimitätsband“?

Ein Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aus dem Jahr 2010[2] beschreibt diese Situation als eine Krise der Demokratie, die hauptsächlich auf einem Fehlen wirksamer Rechte und von echter Beteiligung der Bürger sowie anderer institutioneller Defizite der Demokratie basiert. Dazu gehören die Schwäche der Parlamente gegenüber den Exekutiven,  eine eher kurzsichtige Politik der Regierungen im Hinblick auf einen nächsten Wahlerfolg sowie das Fehlen von langfristigen Zielen und Visionen und das konsequente Eintreten dafür.

Heute wollen die Menschen mehr Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der gewählten Vertreter für das, was sie beschließen und umsetzen, Neudeutsch Accountability genannt. Sie wollen mehr Transparenz und mehr Mitsprache und Einfluss in der Entscheidungsfindung. Es bestehen jedoch das Gefühl und der Eindruck, dass die politischen Vertreter zu einer eigenen Klasse mit ihren eigenen Spielregeln wurden, die sich zunehmend von den Realitäten im täglichen Leben der Menschen entfernt. Dies führt zu einem Vertrauensverlust unter den Bürgern, einem Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen der staatlichen Macht und gegenüber Politikern im Speziellen. Eine Umfrage von Eurobarometer aus dem Jahr 2009[3] zeigte, dass gerade die lokalen Gebietskörperschaften in Europa mehr Vertrauen genießen als die nationalen oder die europäischen Politikerinnen und Politiker. Aber auch die Gemeindepolitiker können nur auf das volle Vertrauen der Hälfte der Bevölkerung zählen! Die Vertrauenswerte für nationale und europäische Politiker sind deutlich niedriger.

Diese wachsende Kluft und Entfremdung bedeutet, dass die beiden wesentlichen Elemente des repräsentativen Systems entkoppelt sind: nämlich einerseits die Bürgerinnen und Bürger als die Quelle der Legitimation und andererseits die demokratischen Institutionen und die dorthin gewählten Repräsentanten, die die Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Interessen dort vertreten sollen. Die Entscheidungsprozesse in diesen Institutionen entziehen sich weitgehend dem Einfluss der Bürgerinnen und Bürger.

So ist es nur natürlich, dass die Bürgerinnen und Bürger andere Formen der Repräsentation, der Einflussnahme und der Vertretung ihrer Interessen suchen und dabei die abgehobene „repräsentative Klasse“, die Politikerinnen und Politiker, umgehen. Wir sehen heute als eines der Ergebnisse wachsende Aktivitäten der Menschen außerhalb der etablierten Einrichtungen der „Governance“: im Rahmen der Zivilgesellschaft, in unzähligen freiwilligen Aktivitäten und gesellschaftlichen Netzwerken.

Occupy Wall Street, Indignados, Generation Praktikum, Piratenparteien: all das ist Ausdruck der Forderung nach neuen Formen demokratischer Partizipation am öffentlichen Leben mit echter und direkter Beteiligung. Die Bürger wollen wieder wirkliche  Stakeholder, „Beteiligte“ in den Entscheidungsprozessen sein, von denen sie betroffen sind. Sie wollen sich beteiligen und teilhaben. Dieses Bild zeigt klar, dass das Bekenntnis und die Sehnsucht der Bürger zu demokratischen Werten nicht verschwunden ist. Allerdings sehen sie zumindest teilweise das derzeitige System als nicht ausreichend in der Lage, um diese Werte der Demokratie zu vertreten und aufrecht zu erhalten.

Ein Paradoxon unserer modernen Demokratie ist, dass, obwohl noch nie so viele Menschen in demokratischen Systemen gelebt haben, gleichzeitig noch nie so viele Menschen von der Qualität der Demokratie, in der sie leben und die sie täglich erleben, enttäuscht sind. Die Demokratie verspricht ja soziale Gerechtigkeit, eine gerechte und faire Verteilung der Lebenschancen und Möglichkeiten für alle.  Allerdings kann die Demokratie, in der Art und Weise, wie sie sich heute darstellt, diese Versprechen und Erwartungen nicht erfüllen. Dies ist einer der Hauptgründe, warum sich so viele Bürgerinnen und Bürger in Europa heute von der institutionalisierten Politik abwenden, nicht an Wahlen teilnehmen oder, wenn sie wählen gehen, populistische, nationalistische und teilweise xenophobe Tendenzen zeigen.

Beteiligung erweitern

Eine weitere Herausforderung für die repräsentative Demokratie ist die Migration von Millionen von Menschen innerhalb Europas und nach Europa. Die moderne globalisierte Welt bringt neue Chancen für Menschen verschiedener Kulturen und ethnischen Ursprungs, miteinander zu kommunizieren  und zu arbeiten, zu reisen und zu leben.  Wir sehen heute beispielsweise, dass immer mehr Ausländer in Europa als Unternehmerinnen und Unternehmer selbstständig tätig werden. Nur ein Beispiel: In der Stadt Frankfurt stammten im Jahr 2011 52 % aller Unternehmensneugründungen von Migranten!

Ein Ergebnis von Zuwanderung und Migration ist eine zunehmende ethnische und kulturelle Vielfalt in den Städten Europas, die dadurch immer mehr multiethnisch, multikulturell und multireligiös werden. Trotzdem bleiben Millionen von Migranten, die nicht die Staatsbürgerschaft ihres neuen Aufenthaltslandes haben, von der politischen Beteiligung und von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Der politische und rechtliche Status dieser oft gut integrierten Ausländer ist von größter Bedeutung für die Zukunft auch der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa. Migranten, auch jene der zweiten und dritten Generation, von der politischen Partizipation auszuschließen, bedeutet, dass das repräsentative System für sie nicht funktioniert und das wiederum beschädigt die Demokratie selbst. Wachsende soziale Spannungen oder religiöse Vorurteile und Verunsicherung zwischen der etablierten Wählerschaft und Gruppen von Einwanderern in zahlreichen europäischen Städten bezeugen dies.

Repräsentation um Partizipation ergänzen

Die derzeitige Krise des repräsentativen Systems bedeutet auch, dass „Repräsentation“ nicht länger die einzige Ausdrucksform der Demokratie sein kann. Die Demokratie braucht eine Entwicklung über die Repräsentation hinaus. Dies kann nur durch die Einführung von nachhaltigen Formen der Interaktion zwischen den Wählerinnen und Wählern und den öffentlichen und politischen Einrichtungen und Behörden geschehen: also durch die Einführung auch von direkt-demokratischen und partizipativen Elementen in die Entscheidungsprozesse.

Neue und partizipative Modelle sollten Elemente der repräsentativen und der direkten Demokratie kombinieren und als Prozess verstanden werden, an dem alle Personen und nicht nur die jeweiligen Staatsbürger zu jeder Zeit einbezogen sind. Diese Einbeziehung und Beteiligung am öffentlichen Leben auf lokaler regionaler und nationaler Ebene darf nicht nur anlässlich von Wahlen erfolgen, sondern muss ein regelmäßiger Prozess sein, der Vertrauen bildet.

Partizipative Demokratie und Bürgerbeteiligung brauchen einen breiten und ungehinderten Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu Information über das öffentliche Handeln, über Zukunftsperspektiven und Vorhaben sowie zur Konsultation mit den jeweiligen Behörden. Weiters braucht es eine selbst-organisierte Zivilgesellschaft im Rahmen von Bürgergruppen oder Vereinen,  eine  Interaktion zwischen direkter Demokratie und repräsentativer Demokratie zum Beispiel Diskussionen im Gemeinderat, Landtag oder Parlament über Bürgerinitiativen und kreative  Innovation und die Nutzung der neuen Technologien im Rahmen von E-Democracy, e-Governance  und weitere Elemente. 

So sollte die Zahl an Unterschriften für Volksbegehren oder Volksabstimmungen nicht über 2 oder 3 Prozent der Wähler steigen, um diese Möglichkeiten auch bürgerfreundlich zu machen und nicht um unüberwindliche Hindernisse aufzubauen, die nur von jenen Organisationen bewältigt werden können, die bereits in den Institutionen oder in der Sozialpartnerschaft gut vertreten sind.

Neue Medien forcieren

Ausgehend von diesen Überlegungen ist der erste Bestandteil eines neuen demokratischen Modells ein besserer Rahmen für die Bürgerbeteiligung. Die europäische Bürgerinitiative[4] ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung, die auch die e-Demokratie und die Nutzung von Internet-Applikationen voranbringen wird. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bieten breite Möglichkeiten auf dem Gebiet der e-Demokratie. Dies erleichtert die direkte Konsultation von Bürgerinnen und Bürgern,  das Rückmelden von Feedback auf Vorschläge und öffentliche Vorhaben und in einer weiteren Folge auch die Einführung von e-Voting und e-Government. Insgesamt kann dadurch ein neuer Rahmen für die Bürgerbeteiligung und die Entwicklung neuer elektronischer Dienstleistungen geschaffen werden. Dazu sind aber Begleitmaßnahmen nötig, um zu vermeiden, dass eine digitale Kluft mit einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft entsteht.

Beteiligung als ständiger Prozess

Unter dem unscharfen Sammelbegriff „Referendum“ gibt es verschiedene Arten von Bürgerbeteiligungsmodellen in nahezu allen Mitgliedstaaten des Europarates. Neben wirklichen Bürger-Abstimmungen werden in zunehmendem Maße auch andere Formen von direkter Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene praktiziert, bevor die politischen Gremien die entsprechenden Entscheidungen treffen. Dazu gehören Bürgerbegehren, Bürgerbefragungen,  verschiedene Arten öffentlicher Veranstaltungen und Bürgerversammlungen oder Nachbarschaftsräte,  öffentliche Anhörungen einerseits sowie andererseits partizipative Strukturen wie Migrantenbeiräte, Ausländerbeiräte, Jugendparlamente oder Kindergemeinderäte, um nur einige Beispiele zu nennen. Deutsche und österreichische Bundesländer, die für die Kommunalgesetzgebung zuständig sind, kennen beispielsweise ein Fragerecht für Gemeindebürger zu Beginn einer Gemeindevertretungssitzung zu allen Punkten der Tagesordnung. Die Stadt Salzburg hat erst im April 2013 ein Modell[5] für mehr direkte Demokratie beschlossen und dem Salzburger Landtag mit der Bitte um Anpassung des im Verfassungsrang stehenden Salzburger Stadtrechts vorgelegt.

Eine weitere innovative Idee ist Beteiligung an der Budgeterstellung: „participative budgeting“ . In diesem Rahmen werden Initiativen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Zivilgesellschaft in die örtlichen Budgets aufgenommen, um gewisse Teilprioritäten in bestimmten Gebieten der Gemeinde zu erfüllen. Manche diese Bürgerinitiativen oder zivilgesellschaftlichen Vereine verfügen auch über eigene externe Finanzierungen. Diese Praxis ist im Zunehmen begriffen. Vor allem in Deutschland, in den skandinavischen Staaten und im Vereinigten Königreich sowie in Portugal werden die Wählerinnen und Wähler während der Vorbereitung des jährlichen Gemeinde-Budgets konsultiert, um herauszufinden, welche Hauptausgabenbereiche sie für die wichtigsten halten.

Gestaltungsspielräume für Innovation nutzen

Die Verfassungen vieler europäischer Staaten ermöglichen die Ergänzung repräsentativer Demokratie mit Elementen der direkten Demokratie. Dies gilt auch für die lokale Ebene. In vielen Fällen formuliert der bestehende nationale rechtliche Rahmen allgemeine Grundsätze, die grundlegende Formen der Bürgerbeteiligung anerkennen und gleichzeitig die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in die Lage versetzen, detaillierte Regelungen zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen.

In manchen Staaten werden die Verfahren und Instrumente der direkten Bürgerbeteiligung auf lokaler und gegebenenfalls regionaler Ebene in den Gesetzen über die Gemeindeorganisation geregelt. Dies gilt für Finnland, Luxemburg und Slowenien. In einigen österreichischen Bundesländern, in Aserbaidschan, Kroatien, Ungarn, Rumänien, Russland, Schweden, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und in der Ukraine bestehen spezielle Gesetze über Volksabstimmungen und andere Formen der direkten Demokratie. In anderen Ländern ist die Anwendung von Instrumenten der partizipativen Demokratie in speziellen Materiengesetzen geregelt, wie etwa in statutarischen Regelungen über Raumordnung und Flächenwidmung, Stadtplanung und Umweltschutz.

In vielen Fällen führt der gesetzliche Rahmen nur die Grundsätze aus und lokale und regionale Gebietskörperschaften erhalten weit gehende Zuständigkeiten, um detaillierte Regeln zu treffen. Gleichzeitig ist die Rolle von Soft Law nicht zu unterschätzen. Das umfasst informelle Regeln sowie örtliche Gebräuche und Übungen in informellen Verfahren vor allem in jenen Fällen, wo die Instrumente der Bürgerbeteiligung keine rechtlich bindenden Entscheidungen und Vorgaben für die gewählten Organe erbringen.

Prozess und Ergebnisse als Messlatte für Glaubwürdigkeit

Bürgerbeteiligung muss konkrete Ergebnisse bringen. Das halbherzige Experimentieren mit direkten Konsultationen führt zu Frustration, wenn der Input der Bürgerinnen und Bürger nicht konkrete Ergebnisse bringt. Mit anderen Worten: nicht bindende Referenden und Konsultationen, die mehr oder weniger als Meinungsumfragen oder Stimmungsbarometer fungieren, haben sich als nicht nachhaltig erwiesen, weil sie nur eine weitere Desillusionierung fördern und von den Bürgerinnen und Bürgern als vergebliche Aufwendungen und Energie gesehen werden.

Weiters ist es wichtig, keine Themen im Rahmen der Zuständigkeit der jeweiligen Gebietskörperschaft von der Bürgerbeteiligung auszuschließen. Alle Vorschläge und Anregungen, die auch im Gemeinderat oder im Landtag behandelt werden können, sollten auch für bürgerinitiierte Prozesse offen stehen. Gleichzeitig muss die direkte Demokratie so gestaltet werden, dass sie mit der repräsentativen Demokratie interagiert. Die Parlamente und Gemeinderäte, die jede Initiative behandeln müssen, müssen auch das Recht haben, Gegenvorschläge zu entwickeln, vorzulegen und zu argumentieren.

„Hindernis“ Staatsbürgerschaft?

Schließlich braucht es Vorkehrungen, um die Beteiligungsrechte zu erweitern und auszudehnen. Die partizipatorischen Rechte der Europäerinnen und Europäer sollten nicht länger an die Staatsbürgerschaft gebunden sein, sondern sich an der Länge des Aufenthaltes orientieren. Durch verschiedene Formen der partizipativen Demokratie hat der Europarat eine Anzahl von Vorschlägen ausgearbeitet, um die Beteiligung von Migranten am politischen Leben zu verstärken und zu ermutigen:  in dem politische Rechte auch den Nicht Staatsbürgern eröffnet werden.

So sieht die Konvention des Europarates über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben[6] aus dem Jahr 1992 vor, dass das aktive Wahlrecht und das Recht, sich als Kandidat bei lokalen Wahlen aufzustellen, jedem zugestanden werden soll, der in der jeweiligen Gemeinde seit fünf oder mehr Jahren lebt. Heute nach 20 Jahren garantieren mehr als 20 europäische Länder in der Praxis den Nicht-Staatsbürgern ein Recht, auf lokaler Ebene zu wählen und einige Länder auch ein Recht bei lokalen Wahlen zu kandidieren. Die Konvention sieht auch die Gründung der erwähnten beratenden Räte oder Ausschüsse für ausländische Bewohner als eine Vertretungsstruktur auf lokaler und regionaler Ebene für Migranten vor. Auch diese Praxis findet quer durch Europa immer mehr Verbreitung.

Vorschläge des Europarates

Eine der erfolgreichen Initiativen des Kongresses zur Präsentation verschiedener Beteiligungsformen auf der bürgernächsten Ebene ist die jährlich im Oktober stattfindende „Europäische Woche der lokalen Demokratie“[7]. Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 dient die europäische Woche der lokalen Demokratie dazu, die lokalen Bürgerinnen und Bürger und ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter zusammenzubringen, um über lokale demokratische Prozesse und relevante Themen zu diskutieren – wie etwa in den vergangenen Jahren über die lokale Dimension der Menschenrechte - , die jeweiligen Präferenzen, Sorgen und Vorschläge zu hören und auf dieser Grundlage über Prioritäten für die Gemeinschaft zu entscheiden. Die Standards der Veranstaltungen in den 47 Mitgliedstaaten des Europarates sind naturgemäß äußerst unterschiedlich.

Ein weiteres Beispiel ist die europäische Charta über Jugendbeteiligung auf lokaler und regionaler Ebene[8], die ebenfalls 20 Jahre in Kraft ist. Diese Charta regt Aktionen an, um junge Menschen in den demokratischen Prozess auf Gemeindeebene einzubinden. Der Europarat selbst geht hier mit gutem Beispiel voran: Empfehlungen im Bereich der Jugendpolitik, die an die nationalen Regierungen gerichtet werden, werden von Vertretern der Regierungen unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertreter der Jugendorganisationen ausgearbeitet. Dieser inklusive Ansatz ist einzigartig und könnte auch als Beispiel für künftige weitere partizipative Initiativen dienen.

Diese Beispiele zeigen, dass eines der Schlüsselelemente für ein erfolgreiches Modell für partizipative Demokratie die Dezentralisierung ist. Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo die Handlungskompetenz besteht und sie den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten ist, also in den Städten und Gemeinden aber auch in den  Bundesländern. Grundlage dieses Prozesses der lokalen Demokratie mit echten Entscheidungskompetenzen ist der rechtliche Rahmen der europäischen Charta der lokalen Selbstverwaltung[9]. Dieses einzigartige völkerrechtliche Abkommen für die lokale Demokratie, das im Jahr 1985 angenommen wurde und seit 25 Jahren in Kraft ist, bindet 46 von 47 Staaten des Europarates. Die Unterzeichnung durch den 47. Staat, nämlich San Marino, fand kürzlich im Rahmen der Ministertagung des Europarates Mitte Mai 2013 in Straßburg statt.[10] Mit der dann folgenden Ratifizierung werden alle europäischen Staaten und Bürger über einen gemeinsamen Standard der kommunalen Selbstverwaltung verfügen.

Die Charta wurde im Jahr 2009 durch ein Zusatzprotokoll[11] über die „Rechte der Bürgerinnen und Bürger, am öffentlichen Leben auf Gemeindeebene teilzunehmen“ ergänzt.

Multilevel Governance

Mehr echte Kompetenzen und Zuständigkeiten für lokale und regionale Gebietskörperschaften und eine zunehmende Bürgerbeteiligung erfordern auch ein neues Governance-Modell als zweiten wesentlichen Bestandteil der partizipativen Demokratie. Ein neues Konzept, das diese Vision reflektiert, ist jenes von Multilevel Governance, die das derzeitige System vertikaler hierarchischer Unterordnung und Delegation von Kompetenzen zwischen verschiedenen Regierungsebenen ablöst durch eine klare Zuständigkeitsverteilung und eine Aufteilung von Verantwortlichkeiten. Diese Kompetenzverteilung muss wiederum auf den Kriterien der Effektivität und Wirksamkeit basieren.

Diese beiden Komponenten der Bürgerbeteiligung und der Multilevel und transnationalen Governance  müssen auf der soliden Grundlage einer aktiven demokratischen Bürgerschaft basieren, die der dritte wesentliche Bestandteil der partizipativen Demokratie ist.

Aktive Bürgerinnen und Bürger

Eine stärkere Bürgerbeteiligung braucht auch aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich in den demokratischen Prozess einbringen. Es braucht Bürger, die ihre bürgerlichen Rechte, Pflichten und Möglichkeiten kennen, die ein Verständnis für die Gesellschaft im Allgemeinen und für ihre Gemeinde und Gemeinschaft im Konkreten haben und die auch in der Lage sind, diese Rechte mit Leben zu erfüllen, in dem sie auch ihre Pflichten wahrnehmen und aktiv demokratische Werte leben. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Wissen, Kenntnisse und ein Verständnis der demokratischen, politischen und administrativen Prozesse und Verfahren. Auch die Bildungseinrichtungen bis hin zu Erwachsenenbildung haben die Aufgabe, hier für ein entsprechende Befähigung – Neudeutsch: Empowerment - zu sorgen, um die Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, aktiv teilzunehmen und nicht das Feld wieder nur den „Organisierten“ zu überlassen. Gleichzeitig braucht es auch eine Bewusstseinsbildung in der öffentlichen Verwaltung, um da und dort noch vorhandenes Obrigkeitsdenken abzubauen. Dies sind Voraussetzungen, um die Qualität der Beteiligung und damit die Qualität der partizipativen Demokratie sicherzustellen und gleichzeitig das Vertrauen in die repräsentative Demokratie zu stärken.

Es geht darum, einen breiten Rahmen für eine Bildung zur demokratischen Bürgerschaft in unseren Gesellschaften entwickeln, die alle Ebenen der Governance umfasst und vor allem auf der bürgernächsten Ebene der Gemeinden praktiziert wird. Der Europarat kann hier einen wichtigen Beitrag zum Erfahrungsaustausch und zur Entwicklung gemeinsamer Werte und Standards leisten, die dann in den Mitgliedstaaten und ihren Ländern, Regionen und Kommunen umgesetzt werden. 

Verstärkte und direkte Einbeziehung in das lokale gesellschaftliche und politische Geschehen mit ehrlichen Diskussionen über Optionen können den Bürgerinnen und Bürgern ein Gefühl und Bewusstsein der Teilhabe (zurück) geben und dazu beitragen, Vertrauen wiederherzustellen und die Kluft des demokratischen Defizits zu überbrücken.

Ein partizipatives Modell der Demokratie braucht ein neues dezentralisiertes System von Multilevel Governance, aufbauend auf einem umfassenden Rahmen für die Bürgerbeteiligung.  Beteiligung auf lokaler Ebene muss Hand in Hand gehen mit lokaler Integration für einen besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Beteiligung braucht Politiker, die den (interkulturellen) Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen unterstützen und diesen in den demokratischen Prozess einbindet. Dies trägt schließlich zum Wohl der gesamten Gemeinschaft bei.

Elemente der direkten Demokratie und ernst gemeinte Bürgerbeteiligung bedeuten eine bessere Teilhabe an der politischen Gestaltung sowie mehr Transparenz und eine bessere Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle (checks and balances).

Eines möchte ich besonders unterstreichen: die mehrfachen Krisen, die wir heute erleben, erinnern uns daran, dass die Qualität der Demokratie kein stabiler Status quo sondern in ständiger Entwicklung begriffen ist. Dieser Prozess soll sich in eine partizipative Demokratie weiter entwickeln, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen. Sie kann aber nur funktionieren, wenn es eine gemeinsame Eigentümerschaft – Neudeutsch: Ownership - gibt: von Bürgerinnen und Bürgern, von der Politik und der Verwaltung mit der Bereitschaft, gemeinsam Neuland zu betreten.



[1] Siehe dazu: Kiefer, Andreas: " Der Kongress der Gemeinden und Regionen: Grundlegende Reform und neue Dynamik für Monitoring. In: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2012. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2012, Seiten 455-474.

[2] Democracy in Europe: crisis and perspectives, Bericht von Andreas Gross, Dokument der Parlamentarischen Versammlung des EuroparatesDoc. 12279 vom 7. Juni 2010,  http://assembly.coe.int/ASP/Doc/XrefViewPDF.asp?FileID=12462&Language=EN

[3] Eurobarometer Spezial 307 vom Februar 2009, Seite 9 http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_307_de.pdf

[4] Siehe dazu u.a.: Handbuch zur Europäischen Bürgerinitiative. Eine Gebrauchsanweisung zur transnationalen, direkten Demokratie. Green European Foundation, Luxemburg, 2010.  http://gef.eu/fileadmin/user_upload/GEF-09-64%20ECI%20DE%20web_FINAL.pdf 

[5] Amtsbericht der Magistratsdirektion vom 28.3.2013 auf: http://mehr-demokratie.at/attachments/616_Amtsbericht_vom_28.3.2013.pdf  

[7] Mehr dazu auf der Website des Kongresses: http://www.coe.int/t/congress/demoweek/default_en.asp

[9] Der Text der Charta samt Protokollen und erläuternden Bestimmungen ist verfügbar auf: http://www.coe.int/t/congress/Texts/conventions/charte_autonomie_en.asp