Kommunale Selbstverwaltung in Europa: Die Rolle des Europarates

Konferenz «Stadt macht Europa: Österreichs Städte als aktive Mitgestalter europäischer Politik»

Wien, 29 November 2011

Statement von Dr. Andreas Kiefer, Generalsekretär des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas des Europarates

Herr Präsident,

Herr Kommissar,

sehr geehrte Damen und Herren!

Sehr gerne habe ich die Einladung angenommen, um heute gemeinsam mit Ihnen  Themen der Europapolitik der Gemeinden und Städte zu diskutieren. Ich bin dem Österreichischen Städtebund sehr dankbar, dass es heute neben den Politiken, also den sektoriellen Aspekten kommunalen Handelns, auch um das sehr grundsätzliche Thema der Demokratie, der Governance und der Zusammenarbeit der verschiedenen Regierungsebenen und um die Bürgerbeteiligung geht. Und gerade hier zeigt sich die unverzichtbare Rolle des Europarats und seines Kongresses der Gemeinden und Regionen.

Ich freue mich, mit Ihnen die lokale Dimension europäischer Politiken und ihr Gegenüber, die europäische Dimension kommunalen Handelns zu diskutieren und begrüße auch die Mitglieder des Kongresses und des Ausschusses der Regionen sehr herzlich, die heute hier sind. 

Unser Kontinent erlebte und erlebt einen unvergleichlichen Wandel, angetrieben von der europäischen Einigung und Integration, durch Globalisierung und die digitale Revolution. Dieser Wandel hatte nicht nur Auswirkungen auf politische und wirtschaftliche Prozesse, sondern auf unsere gesamte Gesellschaft.  Globalisierung und  technologischer Fortschritt beeinflussen den Lebensstil und die Wünsche und Bedürfnisse unserer Bürgerinnen und Bürger und ändern gleichzeitig ihre Erwartungshaltungen – auch gegenüber der Politik.

Die wachsende Komplexität, denen sich die Regierungen der Nationalstaaten stellen müssen und die Vielzahl an Herausforderungen, denen sich unsere Gesellschaft gegenübersieht, haben dazu geführt, dass die nationale Ebene die Kommunen und Regionen mehr und mehr als unentbehrliche und bisweilen gleichberechtigte Partner in die Politikgestaltung einbezieht. Die Europäische Union verlangt dies bei der Umsetzung ihrer Politiken in nationalen Aktionsplänen in zunehmendem Maß. Dies, schließlich, führte zu einer Verschiebung des politischen Gewichts hin zu den Städten, Gemeinden und Regionen bzw. Ländern.

Moderne Technologien eröffnen neue Wege, unsere Bürgerinnen und Bürger in demokratische Prozesse einzubeziehen und die Integration ermöglicht direkte Kooperationen zwischen Gemeinden und Regionen. Ich brauche hier in Wien ja nur Centrope oder die vielen Euregiones an Österreichs Grenzen mit unseren Nachbarn zu erwähnen.

Diese Veränderungen sind Anlass, die bestehenden Modelle von Governance in Europa, also von Regierungsführung, Verwaltung, Ablauf von politischen Prozessen, Zusammenarbeit verschiedener Regierungsebenen etc., zu überdenken und an die geänderte Realität anzupassen.

Multilevel Governance

Eine Antwort auf diesen Imperativ gab der Ausschuss der Regionen der EU mit seinem Vorschlag für die Schaffung eines Systems der „multilevel governance“. Er propagiert einen Rahmen von Partnerschaft, der europäische, nationale, regionale und kommunale  Akteure als gleichberechtigte Beteiligte (Stakeholder) mit klaren Zuständigkeiten einbezieht. Dies, freilich, bedingt einen Kulturwandel: sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene – aber auch bei den Regionen und Kommunen selbst, die mehr Verantwortung übernehmen sollen. Dieser partnerschaftliche Ansatz würde die Anerkennung der unentbehrlichen und oft gleichberechtigten Rolle der einzelnen Akteure bei der Erreichung gemeinsam formulierter Ziele bringen. Die logische Folge wäre – vor allem in Staaten, die nicht föderal organisiert sind – ein neuer Ansatz, der von den Bedürfnissen der nationalen Regierungen als Ausgangspunkt für Politiken für die Gemeinden und Städte zu einem Politikansatz weiterentwickelt wird, der die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der kommunalen und regionalen Ebene mehr in den Vordergrund stellt. Also von einer Politik über die Städte und Regionen zu einer Politik für und mit den Städten und Regionen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass diesbezüglich die Rolle der österreichischen Städte und Gemeinden europaweit einzigartig ist. Von Modellen wie dem Konsultationsmechanismus – der seine Schwächen haben mag – können substaatliche Gebietskörperschaften in anderen Staaten des Europarates und der Europäischen Union nur träumen. 

Der Europarat ist in der ausgezeichneten Situation, diesen Prozess des Wandels anzuführen. Dies aus drei Gründen:

Zum ersten weil er über sechzig Jahre an Erfahrungen im Erarbeiten und Setzen von Standards und die Annäherung von nationalen Rechtsordnungen hat und konkrete Kapazitäten für den Austausch in diesen sechs Jahrzehnten  aufgebaut hat.

Zweitens, weil er mit seinen 47 Mitgliedstaaten wirklich pan-europäisch ist und den gesamten politischen Kontinent umfasst und schließlich

weil er mit dem Kongress der Gemeinden und Regionen über ein Organ verfügt, das mit seinen 318 Mitgliedern eine pan-europäische politische Versammlung der Vertreterinnen und Vertreter von über 200.000 Gebietskörperschaften ist. Der Kongress vertritt die Interessen der Regionen und Kommunen gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber den Gremien des Europarats und fungiert auch als Vermittler von Politiken und Maßnahmen des Europarates in Fragen der lokalen und regionalen Demokratie. Also sowohl bottom up als auch Mitwirkung am top down der Organisation gegenüber den Mitgliedstaaten.

Die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung

Der Europarat legte im Herbst 1985, also von 25 Jahren, die rechtliche Basis für die lokale Demokratie in allen Mitgliedstaaten, als er die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung annahm.

Diese Charta, ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, war das erste internationale Abkommen, das das Recht auf lokale Selbstverwaltung anerkannte, die Grundsätze der  lokalen Demokratie kodifizierte und die Rechte und Pflichten von lokalen Gebietskörperschaften und ihrer gewählten Gremien beschrieb. Als erster Vertrag enthielt er das Subsidiaritätsprinzip, das als Grundlage für die Verteilung der Zuständigkeiten und die Zuteilung der dafür nötigen finanziellen Mittel auf die bürgernächsten Ebenen gelten soll.

Durch das Subsidiaritätsprinzip und die daraus resultierende Abgrenzung und Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen Regierungsebenen hat die Charta bereits die Grundlage für Multilevel Governance innerhalb der Mitgliedstaaten gelegt. Wir im Kongress gehen davon aus, dass das vom AdR propagierte künftige Mehr-Ebenen Regierungssystems auf den bereits bestehenden rechtlichen Grundlagen der Charta der kommunalen Selbstverwaltung aufbauen wird – die ja für 44 von 47 Staaten des Europarats gilt -  und diese Grundsätze dann auf der nächsten Ebene, zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen anwenden wird: zusätzlich zu den Beziehungen, die es innerstaatlich zwischen Kommunen, Regionen und den nationalen Regierungen gibt.

Monitoring und Follow up

Das Monitoring der Anwendung und Einhaltung der Charta der lokalen Selbstverwaltung in den Mitgliedstaaten des Europarates sowie die Untersuchung und Beurteilung der Situation der lokalen und regionalen Demokratie sind Kernaufgaben des Kongresses. Dieses Monitoring umfasst auch die Beobachtung von lokalen und regionalen Wahlen durch die politischen Mitglieder des Kongresses und besteht aus einem direkten Kontakt und ständigen Dialog mit den Regierungen der 47 Mitgliedstaaten des Europarates. Diese sind – nach den Bestimmungen der Charta – verpflichtet, zu den Empfehlungen des Kongresses Stellung zu nehmen. Aus diesem Dialog ergeben sich in der Regel Verbesserungen und rechtliche Weiterentwicklungen, die auch oft auf den Erfahrungen in anderen Staaten beruhen. Dieses klare Mandat für ein Monitoring der lokalen und regionalen Demokratie und die direkte Interaktion mit den Regierungen der 47  Mitgliedstaaten unterscheidet den Kongress vom Ausschuss der Regionen, unserem Partner in der Europäischen Union, mit dem wir gut und eng zusammen arbeiten. Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit sind ein Austausch zwischen der Berichterstattern zu den Staaten der europäischen Nachbarschaftspolitik (Östliche Partnerschaft)  und die Frage der Menschenrechte auf lokaler Ebene, die am vergangenen Freitag, 26.11.2010, hier in Wien beraten wurde.

Der AdR und der Kongress arbeiten eng zusammen, um die lokalen und regionale Demokratie voranzubringen und die kommunale und regionale Selbstverwaltung zu stärken. Grundlage ist ein Kooperationsabkommen, das erstmals 2005 abgeschlossen wurde und das 2009 weiterentwickelt wurde. Mit seinem Fokus auf das Monitoring demokratischer Verfahren und das Standard-Setting durch den Europarat spielt der Kongress eine ganz spezielle Rolle in der multipolaren Landschaft der Europäischen Institutionen, die sich meistens den Fragen der praktischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet annehmen.

Meine Damen und Herren,

Wir haben es vielleicht schon wieder aus dem Gedächtnis verloren, dass die Charta der lokalen Selbstverwaltung einen unschätzbaren Beitrag zur Entwicklung der Demokratie in Europa nach dem Fall des eisernen Vorhangs geleistet hat. Neben der Anerkennung der wachsenden Rolle der kommunalen und regionalen Demokratie in Europa brachte ihr In-Kraft-Treten im Jahr 1989 eine neue Ära der Neu-Ausrichtung unserer demokratischen Systeme in Richtung auf Bürgereinbeziehung und Bürgernähe.

Heute finden wir uns an einem weiteren Neubeginn, einer neuen Phase demokratischer Entwicklungen. Die rechtlichen Grundlagen für die lokale Demokratie sind weitgehend anerkannt und unbestritten und sie entwickeln sich weiter. So wurde ein Protokoll zur Weiterentwicklung der Charta  angenommen, der eine Verbesserung der Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Arbeiten der Gemeinden über Bürgerversammlungen etc. zum Ziel hat.

Der Kongress bemühte sich mit einigen Mitgliedstaaten, nach dem Vorbild der Charta der kommunalen Selbstverwaltung für die regionale Demokratie und Selbstverwaltung ebenfalls einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag abzuschließen – allerdings scheiterte das am Widerstand einiger Mitgliedstaaten.  Das Ergebnis der Verhandlungen ist der im November 2009 von den Ministern für lokale und regionale Gebietskörperschaften angenommene sogenannte „Referenzrahmen für regionale Demokratie“.

In dieser neuen Phase legen wir in unserer Arbeit besonderes Augenmerk auf den Bereich der Governance, also auf die Verbesserung des Managements von Gemeinden, auf die Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen, auf die Berücksichtigung der Wünsche der Bürgerinnen und Bürger, auf Bürgerbeteiligung – also Themen, die ich als Bürgernähe und Qualitätsmanagement bezeichnen möchte. Vor dem Hintergrund einer kleingliedrigen kommunalen Struktur in Österreich mag dies seltsam klingen. Aber massive Gemeindezusammenlegungen in Dänemark oder ähnliche Projekte in anderen Staaten machen das verständlich. Es gibt eine Philosophie, die sich der Schaffung größerer Einheiten verschrieben hat und die die Gemeinde mehr als Dienstleister und nicht so sehr als eine eigenverantwortliche bürgernahe Ebene politischer Entscheidungen sieht, die über einen starken eigenen Wirkungsbereich verfügt,

Diese Bürgernähe und ein politisches sowie Verwaltungsmanagement und brauchen Erfahrungsaustausch und von einander Lernen. Der Europarat hat hier einige Schlüsselbereiche identifiziert, die wechselseitig voneinander abhängen und die ich als Kernpunkte für eine Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung sehe:

Innovation,

Bürgerbeteiligung

interkultureller Dialog und

die Frage der Menschenrechte auf lokaler und regionaler Ebene.

Der Kongress hat diese Elemente zusammen geführt, als er im Jahr 2008 seine Vision für eine urbane Governance im Rahmen der Europäischen Städtecharta – Manifest für eine neue Urbanität (European Urban Charter - Manifesto for a new urbanity) vorgelegt hat. Diese Charta bietet ein Modell für städtische Räume, die bürgerzentriert und nachhaltig sein wollen, über einen inneren Zusammenhalt aufgrund von Gemeinsamkeiten verfügen, wissens- und bildungsorientiert sind, was wiederum kulturelle Entwicklung, Kreativität und Innovation fördert und daher Lebensqualität bietet. Kurz: Gemeinwesen, die es verstehen, für und mit den Bürgern zu arbeiten und die Bevölkerung einbeziehen.

Bevor ich auf einige Details dieser Punkte eingehe möchte ich unterstreichen, dass ihre  praktische Verwirklichung zu einem erheblichen Teil von den institutionellen und administrativen Fähigkeiten der Städte und Gemeinden abhängen. Daher brauchen wir auch weiterhin ein Capacity building auf kommunaler Ebene, um Governance, also Regierungs- und Verwaltungsmanagement weiter zu verbessern. Kernelemente dabei sind Benchmarking, Erfahrungsaustausch und voneinander Lernen: durch interkommunale Zusammenarbeit, durch die Mitarbeit in nationalen und internationalen Netzwerken auch über die nationalen Grenzen hinaus und durch gemeinsame konkrete Projekte.

Der Kongress unterstreicht daher die große Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Regionen, die mittlerweile durch die Europäische Integration wesentlich erleichtert wurde. Der Europarat bietet seinen Mitgliedstaaten als Ergänzung zum Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) die sogenannten Euroregionalen Kooperationsverbünde (EKV), die in einem Zusatzprotokoll zum Madrider Rahmenübereinkommen für grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften im November 2009 zur Unterzeichnung aufgelegt wurde. Sie sind in vielen Bereichen flexibler und können auch andere Aufgaben übernehmen als ein EVTZ.

Auch auf europäischer ebene können die europäischen Institutionen sowie die Verbände von lokalen und regionalen Gebietskörperschaften nur dann erfolgreich arbeiten, wenn sie sich aktiv in den Netzwerken engagieren und Partnerschaften eingehen. Auch der Kongress legt großen Wert auf die Zusammenarbeit mit seinen Partnern wie dem Rat der Gemeinden und Regionen (RGRE), der Versammlung der Regionen Europas (VRE) sowie operationell ausgerichteten Netzwerken wie u.a. dem Verband der lokalen Demokratie-Agenturen (Association of Local Democracy Agencies (ALDA)), dem Netzwerk der Verbände von lokalen Gebietskörperschaften Südosteuropas (Network of Associations of Local Authorities of South-East Europe (NALAS)), dem Europäischen Netzwerk lokaler und regionaler Trainings- und Fortbildungseinrichtungen (European Network of Training Organisations for local and regional authorities (ENTO)), Städtenetzwerk für lokale integrationspolitik (Cities for Local Integration Policy (CLIP)), Interkulturelle Städte für Kinder. In den meisten dieser Netzwerke spielen die österreichischen kommunalen Dachverbände sowie die Stadt Wien entscheidende Führungsrollen! Wir müssen also zusammen arbeiten, um beim Aufbau dieser neuen Governance erfolgreich zu sein.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf einige konkrete Elemente eingehen.

Innovation

Das erste Element ist Innovation auf lokaler Ebene. Um neue Wege für die kommunale politische und administrative Regierungsführung zu finden braucht es Innovation.Die Mitgliedstaatem des Europarates haben daher im Jahr 2007 die Europäische Strategie für Innovation und gute Regierungsführung (Good Governance) auf lokaler ebene entwickelt. Sie wurde von der Konferenz der Minister für loakle und Regionale Gebietskörperschaften angenommen und umfasst 12 Grundsätze für innovative Maßnahmen.

Wir, im Kongress, halten vor allem drei dieser Grundsätze für die Schlüssel fur effektive und nachhaltige Innovation. Der erste ist ein verlässlicher Rechtsrahmen, der sicherstellt, dass die kommunale Ebene auch die Aufgaben ausführen kann, die ihr übertragen werden, dass kommunale Leistungen für alle gleichermaßen zugänglich sind, dass Transparenz und ethisches Verhalten praktiziert werden. Diese Rechtssicherheit führt auch zu Effektivität und Effizienz.

Der zweite Schlüssel ist Bürgerbeteiligung. Die Einbeziehung der Bevölkerung in die kommunalen Entscheidungsprozesse ermöglicht es, ihr großes Potenzial für innovative Ideen und Lösungsansätz zu nutzen. Diese Beteiligung führt zu mehr Identifizierung der Bürger mit IHRER Gemeindepolitik und damit zu mehr Verantwortlichkeit (accountability), zu mehr Transparenz und damit Wirksamkeit kommunalen Handlens.

Schlißelich ist der dritte Schlüssel ein gesundes Netzwerk in den vertikalen und den horizontalen Beziehungen politischer Akteure. Vertikal, mit Regionen/Ländern und den nationalen regierungen, horizontal mit anderen Gemeinden, Gemeindeverbänden – auch über Grenzen hinweg. So wie die nationalen Regierungen den Input und  Erfahrungsschatz der kommunalen Gebietskörperschaften füe die nationale Politikentwicklung benötigen, so brauchen die Kommunen Rahmenbedingungen, politische und finanzielle Unterstützung für ihr andeln durch die nationale und die regionale Ebene.

Bürgerbeteiligung

Ich habe darauf verwiesen, dass Innovation auch durch Bürgerbeteiligung stimuliert wird. Bürgerbeteiligung, die über den Wahlakt hinaus geht! Im Kongress haben wir verschiedene Ansätze gewählt, um die rechtlichen Grundlagen für diese Beteiligung zu verstärken. Im November 2009 wurde das Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung angenommen, das die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme am öffentlichen Leben auf Gemeindeebene stärkt.

Der Kongress unternimmt zahlreiche Aktivitäten auf diesem Gebiet und ich möchte nur kurz einige wenige nennen: :

Einige Worte zur Integration auf lokaler Ebene und zur Woche der lokalen Demokratie. Der Kongress war aktiv an der Entwicklung von Konzepten zur Integration von Wanderarbeitern in Kommunen und betrieb 2006 die Gründung des Netzwerkes „Städte für lokale Integrationspolitik“ - CLIP (Cities for Local Integration Policy). Dieses Netzwerk war ein großer Erfolg und es umfasst rund 40 europäische Städte – darunter Wien als einzige österreichische Stadt. Parallel dazu forcierte der Kongress die Schaffung repräsentativer Strukturen für ausländische Bürger aus lokaler und regionaler Ebene und unterstützt die Schaffung eines Europäischen Netzwerks von Ausländerbeiräten als wertvolle Elemente der Zivilgesellschaft.

Eine weitere erfolgreiche Initiative des Kongresses ist die Europäische Woche der lokalen Demokratie, die 2007 ins Leben gerufen wurde. Dieser jährliche Event soll das Wissen der Bürgerinnen um die lokalen demokratischen Institutionen und Prozesse erhöhen und damit die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und ihren lokalen Vertretern stärken.

In dieser Woche finden Begegnungen und Diskussionen mit Kommunalpolitikern statt, auch um zu verdeutlichen, wie die Kommunalpolitik funktioniert, wie sich die Bürger einbringen können und um sie für ihre „res publica“ zu interessieren. Diese Woche findet immer um den 15. Oktober statt – als Verbindung zur Europäischen Chafrta der lokalen Selbstverwaltung, die im Oktober 1985 zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten aufgelegt wurde.

In diesem Jahr beteiligten sich rund 170 Städte und Gemeinden aus 24 Staaten des Europarates. Erstmals beteiligen sich Großstädte wie Brüssel und Paris ebenso wie über hundert kleinere Städte und Gemeinden in über 20 Staaten des Europarates. Eine Neuerung war dieses Jahr das Konzept der “12 Sterne Stadt“. Sechzehn europäische Städte aus 12 Staaten erklärten sich bereit, ein umfassenden Veranstaltungsprogramm durchzuführen, das auch auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist.

Interkultureller Dialog

Der Kongress widmete weiters dem interkulturellen und interreligiösen Dialog auf lokaler Ebene besonderes Augenmerk – auch als wichtiges Element einer neuen Governance. Die europäischen Kommunen sind heute zunehmend multiethnisch, multikulturell, multikonfessionell und mehrsprachig. Diese Vielfalt ist sowohl eine Stärke als auch eine Quelle von Konflikten, je nach dem, wie das angegangen wird. Wir versuchen, Wege aufzuzeigen, wie verschiedene Gruppe der Gemeindebürger in einen dauerhaften Dialog mit einander und mit der politischen Ebene eintreten. Es ist einfach nicht möglich, eine Gemeinde zu führen und zu entwickeln, die durch interethnische und interreligiöse Konflikte gekennzeichnet ist.

Im Jahr 2006 erarbeitete der Kongress 12 Grundsätze für Gemeinden und Städte, die den interkulturellen und interreligiösen Dialog auf lokaler Ebene ausbauen wollten. Dies war der Beitrag des Kongresses zum Weißbuch des Europarates zu diesem Thema. Zwei Jahre später starteten der Europarat und die Europäische Kommission ein Programm unter dem Titel „Interkulturelle Städte“, das die Städte ermutigte, interkulturelle Politiken in ihren Bereichen zu entwickeln und umzusetzen. 

Diese Programme, die den Städten helfen sollen, einen Austausch zwischen den Kulturen von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft in Gang zu bringen, zielen auf eine Ausgewogenheit von Identität, Inklusion und Integration. Diese Aktivitäten fanden und finden statt in Schulen, sozialen Diensten, im Freizeitbereich usw. und sollen zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen, wo vorher Unwissenheit, Ablehnung, Feindseligkeit oder Konfrontation herrschte.

Der Kongress unterstützte dieses Programm und das neue Netzwerk interkultureller Städte und hat sich mehrfach positiv dazu geäußert. In einer Empfehlung und einer Entschließung aus dem jahr 2009 fordert der Kongress die Städte und Gemeinden auf, einen  interkulturellen Politikansatz zu wählen und die wertvollen Beiträge der verschiedenen Bevölkerungsgruppen für das gemeinsame Ganze anzuerkennen und auch die Entwicklung von mehreren kulturellen Identitäten zu fördern.

Dieses Commitment soll sich äußern durch Ausbildung, Bewußtseinsmaßnahmen, stärkere Einbeziehung von Einwanderern in lokales Handeln und den beginn eines Dialogs zwischen den kulturellen Gruppen. Es liegt an den Städten und Gemeinden, diese Vielfalt zu einem Element kommunalen Handelns zu machen. Und es hat lange gedauert, bis Einwanderer auch als Gemeindebedienstete arbeiten konnten.

Die kommunale und regionale Dimension der Menschenrechte

Gute Regierungsführung, gute Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung, die wir anstreben, ist untrennbar mit der Respektierung der Menschenrechte verbunden.   Die Unterstützung und die Verteidigung der Menschenrechte ist zweifellos eine Aufgabe aller politischen Handlungsebenen. Aber es sind die Gemeinden und die Regionen, wo es darum geht, bei der konkreten Rechtsanwendung, bei der Erbringung von Dienstleistungen, bei der Gewährung sozialer Unterstützungen usw. die Menschenrechte als wesentliche Dimension stärker ins Bewusstsein zu rücken.  Städte und Gemeinden sowie Regionen spielen eine Schlüsselrolle in der täglichen Anwendung der Menschenrechte: In der Wohnungspolitik, bei den Gesundheits- und Sozialdiensten, bei Bildungsangebote usw. Städte und Gemeinden setzen tagtäglich jene Grundsätze und Standards in die Praxis um, die in internationalen Verträgen geregelt sind, wie etwa in der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder in der mit dem Vertrag von Lissabon verbindlich gewordenen Grundrechtecharta der Europäischen Union. Am vergangenen Freitag, 26.11.2010, fand hier in Wien eine sehr aufschlussreiche Konferenz des Ausschusses der Regionen und der Grundrechteagentur unter Beteiligung des Kongresses statt.

Es stimmt schon: normalerweise verweisen wir nicht auf Sozialdienstleistungen, Grundbedürfnisse und die Daseinsvorsorge als Grund- oder Menschenrechte und viele Gebietskörperschaften sind sich gar nicht in vollem Umfang ihres wichtigen und weitreichenden Beitrags bewusst, den sie mit ihre Aufgabenerfüllung leisten, um diese Rechte zu gewährleisten. Wir wollen das Bewusstsein für diese Fragen stärken und damit beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte auch ausüben können. In Österreich gibt es ja einige auch international als vorbildlich geltende Initiativen, etwa in der „Menschenrechtsstadt Graz“.

Der konkrete Beitrag des Kongresses der Gemeinden und Regionen zu diesem Thema besteht darin, dass wir im Frühjahr 2010 entschieden haben, bei den Monitoring Missionen über die Lage der lokalen und regionalen Demokratie in den Mitgliedstaaten auch das Element der Menschenrechte auf lokaler und regionaler Ebene hinzuzufügen. Und: in einer Entschließung fordern wir die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften auf, entsprechende Strukturen einzurichten und Verfahren zu entwickeln, die die Menschenrechtssituation beobachten und verbessern helfen, vor allem dort, wo es um kommunales Handeln geht.

Eine Herausforderung ist es, Indikatoren zu entwickeln, die Aussagen über die Erfüllung der Grundrechte geben können. Meist sind es soziale und wirtschaftliche Rechte wie Wohnungswesen, Gesundheits- und Sozialdienste, Bildung und Beschäftigung, aber auch kulturelle und bürgerliche Rechte fallen in den Zuständigkeitsbereicht von Städten und Gemeinden – zum Beispiel freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Städte und Gemeinden brauchen  dafür neben finanziellen Mitteln  vor allem einen klaren politischen Willen sowie Ausbildungsmaßnahmen für Menschenrechtsfragen, Beschwerdeeinrichtungen und Garantien für gleichen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sowie Qualitätskriterien, die überprüfbar sind. Ich freue mich, dass die Landeshauptstadt Salzburg letzte Woche ihr Konzept vorgestellt hat, um zu einer Menschenrechtsstadt zu werden und sie zeigt damit, dass diese Überzeugung auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten für die Gemeinden umsetzbar ist.

Charta für eine neue Urbanität

Abschließend noch einige Worte über ein neues Modell für moderne städtische Governance, das der Kongress im Jahr 2008 vorgeschlagen hat und das auf den Grundsätzen der Europäischen Städtecharta 2 – Manifest für eine neue Urbanität aufbaut.

Die Charta bietet eine neue Vision und ein zeitgemäßes Modell für urbanes Leben und für urbane Governance und umfaßt Ökologie, Biodiversität, Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit, öffentliche Räume, Zugang zu Wirtschaft, Kultur, Bildung, Gesundheits- und Sozialdienstleistungen usw.

Städte sollen bürgerorientiert, inklusiv und kohäsiv, nachhaltig und modern sein und sich der Innovation und der kulturellen Entwicklung verschreiben. Alle Bürgerinnen und Bürger, mit ihren unterschiedlichen Hintergründen, Identitäten und Kulturen sollen im Mittelpunkt des öffentlichen Handelns in der Stadtentwicklung stehen.

Der wichtigste Anspruch der Charta ist eine Stadt für die Bürgerinnen und Bürger, in der Demokratie und Beteiligung auf allen Ebenen gelegt und praktiziert wird.

Der zweite Anspruch betrifft Nachhaltigkeit und Umweltgerechtigkeit. Es soll eine städtische Ökologie entwickelt werden, die den ökologischen Fußabdruck reduziert, natürliche Ressourcen und Biodiversität erhält, Energie spart und Zugang zum „Öffentlichen Gut“ gewährleistet.

Der dritte Anspruch ist eine inklusive Stadt geprägt von Solidarität und gutem Zusammenleben.

Das vierte Element schließlich umfasst Modernität, Bildung und Wissen und kulturelle Vielfalt.

Die Europäische Städtecharta ist als Ausgangspunkt für Inspiration und Anleitung für konkretes Handeln gedacht, um diese Vision einer neuen Urbanität auch in die Realität umzusetzen.

Interkommunale Zusammenarbeit

Eines der angewandten Mittel um diese Elemente von Good Governance zu verwirklichen ist interkommunale Zusammenarbeit – innerhalb der Mitgliedstaaten, über Bundesländergrenzen aber auch über nationale Grenzen hinweg. Österreich verfügt auf diesem Gebiet über reiche Erfahrungen, wenngleich die Landesgrenzen in manchen Bereichen noch immer erhebliche Hindernisse darstellen.

Manche Staaten wählen den Weg von Gemeindezusammenlegungen, um wirtschaftlich handlungsfähige Größenstrukturen zu bekommen. Wir im Kongress sind überzeugt, dass das Bündeln von Kräften nicht zwangsläufig die Schaffung von Großstädten bedeuten muss, in denen kleinere Gemeinden ihre Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlieren. Interkommunale Zusammenarbeit von gleichberechtigten Partnern stellt eine echte Alternative zu Zusammenlegungen dar.

Wir im Kongress sind überzeugt, dass die Gleichberechtigung aller Stakeholder als Grundsatz für interkommunale Zusammenarbeit gelten muss. Kreativität entsteht nicht durch Hierarchien sondern durch ein Klima der Offenheit. Und schließlich erwarten die Bürgerinnen und Bürger neue Lösungsansätze für die aktuellen Probleme. Die Erfahrung zeigt uns, dass Austausch und Kooperation ein enormes Innovationspotential haben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die sehr erfolgreichen Initiativen des Österreichischen Städtebundes und des Österreichischen Gemeindebundes für die kommunalen Partner in Südosteuropa.

Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich unterstreichen, dass all die Elemente, die ich erwähnt habe, voneinander abhängen und miteinander in Beziehung stehen. Ein positives Menschenrechtsklima wird zu einem besseren Dialog zwischen verschiedenen Gruppen einerseits sowie zwischen den Gruppen und der Gemeinde- bzw. Stadtregierung andererseits führen. Dies wiederum bringt mehr Bürgerbeteiligung, mehr Innovation und bringt bessere Governance. Gute Governance auf lokaler und regionaler Ebene macht diese Gebietskörperschaften wiederum zu wertvollen und unentbehrlichen Partnern im Mehrebenen Regierungssystem in Europa – auf die ich zu Beginn meines Statements eingegangen bin.

Dieses Ziel müssen wir im Mittelpunkt der neuen europäischen Politik für die Gemeinden haben: Politiken nicht über die Städte nach den Bedürfnissen der nationalen ebene sondern Politiken für die Städte und mit den Städten, die sie in die Politikentwicklung und in die Umsetzung voll einbezieht.