Symposium “Erbe und Moderne”

Innsbruck, Oesterreich 4.-5. Oktober 2007

Anrede von Hilde Zach, Bürgermeisterin von Innsbruck und Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung des Kongresses des Europarates

Frau Landeshauptmann, Herr Sektionschef,

werte Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturausschuss des Europarates,

liebe Expertinnen und Experten,

sehr geehrte Damen und Herren,

„Sprich über das Moderne ohne Verachtung und über das Alte ohne Vergötterung“ – kein Spruch des 21. Jahrhunderts, sondern ein Zitat von Philip Dormer Stanhope, Earl of Chesterfield, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts!

Gerade wegen dieser zeitlichen Dimension ein wahrer Spruch, den sinngemäß auch viele andere Menschen immer wieder  von sich gegeben haben, wie etwa Jean Jaurès, ein französischer Philosoph und Politiker des 19. Jahrhunderts, der von der Tradition als dem „Schüren der Flamme und nicht dem Bewahren der Asche“ spricht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

von einer gewählten Vertreterin des Volkes erwarten Sie zu Recht politische Aussagen, keine sachlich-fachlichen Erklärungen wie von einer Denkmal- oder Architekturexpertin – Expertin muss ich als Bürgermeisterin auf politischem Gebiet sein.

Aber vorab, in dieser Grundsatzerklärung, geht es um eine allgemeine Hinführung zum Thema, um eine Erklärung, warum und wieso in Innsbruck eine internationale Fachtagung zum Thema „Alt und Neu – Erbe und Moderne" einberufen wird, wie wir sie soeben gemeinsam eröffnen.

Es ist heute ein besonderer Anlass für mich – seit mehreren Jahren bin ich nunmehr auf Ebene des Europarates tätig.

Als Vorsitzende des ständigen Ausschusses für Bildung und Kultur freue ich mich wirklich sehr, dass ich Sie alle heute in Innsbruck begrüßen darf. In dieser Eigenschaft hatte ich schon mehrere Male Gelegenheit, zum

Thema „historisches Erbe“ Stellung zu beziehen.

So konnte ich den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates bei einer Tagung in Norwich in Großbritannien vertreten und damals ausführen, dass „das historische Erbe der sichtbare und fühlbare Ausdruck von kulturellen Werten ist. Aufgabe der Kulturpolitik ist es, für die Erhaltung, Pflege und Verbreitung des historischen Erbes zu sorgen.“

Aus Anlass dieser Tagung bin ich zum ersten Mal mit Vertretern der „Europäischen Vereinigung historischer Städte und Regionen“ zusammengetroffen, die ich heute ebenfalls hier im Rahmen unserer Tagung herzlich willkommen heiße.

Die Vereinbarkeit von Erbe und Moderne im Rahmen der vielerorts gestarteten Stadterneuerungsprogramme beschäftigt uns seit geraumer Zeit.

Die Europäische Kampagne für die Wiedergeburt der Städte in den 80er-Jahren verfolgte das Ziel, alte städtische Zentren neu zu beleben, neue Nutzungsmöglichkeiten und „erbauliche“, öffentliche Räume zu schaffen, und dabei die soziale Atmosphäre historischer Gegenden zu wahren.

Die Europäische Städtecharta des Europarates aus 1992, welche durch den Kongress im Jahr 2004 überarbeitet und den neuen Gegebenheiten angepasst wurde, beinhaltet unter anderem in ihrer Erklärung über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der europäischen Städte folgende Passage zum Thema Architektur:

„Die Bürger der europäischen Städte haben ein Recht auf eine angenehme und anregende physische Umgebung aufgrund zeitgenössischer Architektur von hoher Qualität, sowie auf die fachgemäße Erhaltung und Wiederherstellung des baulichen Erbes;"

und

„Die Identität einer Stadt beruht ebenso sehr auf ihrer zeitgenössischen Architektur wie auf ihren Baudenkmälern."

Die historischen europäischen Stadtzentren bilden eine wichtige Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie enthalten kostbare Teile des baulichen Erbes als das Gedächtnis der Stadt und tragen bei zur Identität der Generationen. Auch für das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität zwischen den Völkern Europas spielen sie eine erhebliche Rolle.

Um den Druck auf die historischen Stadtzentren etwas zu entschärfen, muss ein schwierig zu bewerkstelligendes Gleichgewicht zwischen ihrem traditionellen Wesen aus dichten, diversifizierten Kernen und den neuen Nutzungen gefunden werden.

Der Platzanspruch der in den historischen Quartieren neu projektierten Bauten ist eines der Grundprobleme der Architektur, nicht nur in Europa.

In einer besonders vorsichtigen Konzeption der in den Stadtzentren neu zu errichtenden Gebäude muss der Schutz des baulichen Erbes gewahrt bleiben - ohne dabei architektonische Innovationen zu unterbinden. Die Aufmerksamkeit für Details ist für das Entstehen einer angemessenen Stadt-Erscheinung entscheidend. Es muss der Architektur gestattet sein, sich auszudrücken und den verschiedenen an sie herangetragenen Bedürfnissen nachzukommen. In dieser Hinsicht regen Architekturwettbewerbe kostbare neue Ideen an.

Die Anziehungskraft einer Stadt wird nicht nur durch die Sanierung der baulichen Substanz, sondern auch durch neue Bauten von hoher Qualität verbessert, sofern diese mit ihrer Umgebung in Einklang stehen.

Hinsichtlich des baulichen Erbes der Städte betont die Europäische Städtecharta: „Die städtische Architektur beruht auf einem Erbe, dessen Elemente heute, mit zeitlichem Abstand, als notwendig für Identität und Gedächtnis der Stadt angesehen werden."

Das bauliche Erbe der Städte gibt ein kulturelles Referenzsystem an die zukünftigen Generationen weiter und bildet den Rahmen unserer gemeinsamen europäischen Geschichte und Zukunft. Gebäude, die heute neu und modern sind, gehören schon bald zum baulichen Erbe der Stadt - ein Umstand, der schon in ihre Planung einfließen muss.

Die Erkenntnis der Bedeutung dieses Erbes darf nicht nur dem engen Kreis der Architekten, Archäologen und Historiker beschieden sein, sondern muss auch der Bevölkerung, der Politik und der Wirtschaft bewusst gemacht werden.

Dieses anhand der Europäischen Städtecharta aufgezeigte Spannungsfeld ist Anlass genug, um das Thema einer erneuten Erörterung und Untersuchung auf Ebene des Europarates zu unterziehen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Im Jahr 2005 wurde ein Expertenbericht in Auftrag gegeben und im Kulturausschuss des Kongresses beraten. Diesem Expertenbericht folgten eine Entschließung und eine Empfehlung, die beide durch den Kongress der Gemeinden und Regionen bei seiner 13. Vollversammlung vom 30. Mai bis 1. Juni 2006 angenommen wurden.

In der Entschließung hat sich der Kongress für die Abhaltung einer Konferenz zur Weiterentwicklung dieses Themas in Innsbruck ausgesprochen.

2006 haben wir uns in Dubrovnik zum Thema: „Kulturtourismus im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Gewinnen und der Gefahr des Verlustes von Identität“ in ähnlicher Form zusammengefunden.

Dort konnte ich zur heutigen Tagung wie folgt überleiten: „Die Vereinbarkeit der Bewahrung des kulturellen Erbes, die Ermöglichung moderner Architektur und des Ausbaus moderner Infrastruktur in unseren Städten und Regionen ist eine Herausforderung an uns Politiker. Fachwissen und berechtigte Anliegen der Bürger zusammenzubringen, um dauerhafte Lösungen für einen verantwortlichen Umgang mit dem kulturellen Erbe zu ermöglichen, ist ein Anliegen, das uns hier zusammenführt.“

Der komplementäre Ansatz zwischen architektonischer Erneuerung und Bewahrung des Kulturerbes bedarf der politischen Abwägung dessen, was machbar und dem Gemeinwohl dienlich ist und setzt die Dialogfähigkeit aller Beteiligten voraus.

Architektonisches Schaffen, Sprache, Kunst, Musik und Literatur sind Ausdruck des Beitrages, den die Geschichte und das kollektive Gedächtnis einer Stadt leisten; sie sind Zeugen der Entwicklung der besonderen Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen der Stadt und zugleich Bestandteile ihres kulturellen Erbes. Die Kultur ist damit die Gesamtheit der Errungenschaften, des Wissensschatzes und der literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Traditionen einer Bevölkerung.

Auch im Stadtbild von Straßburg zeigt sich eine gewisse politische Aufbruchstimmung. Die Zeiten, in denen man sich in Frankreich nicht traute, historische Bauwerke mit moderner Architektur zu verändern, sind zumindest in Straßburg vorbei. Auch unsere Partnerstadt Grenoble verordnet sich derzeit ein ehrgeiziges Stadterneuerungsprogramm.

Lassen Sie mich mit dem Beispiel Straßburg überleiten zu meiner nächsten Aussage:

Alt UND Neu sind das Wesen Europas

Wie kaum ein anderer Kontinent definiert sich Europa als Schmelztiegel von Alt und Neu. Unser gesamter geographischer Raum, vom Atlantik bis zur gemeinsamen Grenze mit Asien, mit 800 Millionen Menschen und 47 Mitgliedsstaaten, lebt vom Miteinander und der Fusion von Alt und Neu. Ob es Anstöße von außen oder von innen gewesen sind – über Jahrtausende hat sich Europa zu einem großen Teil über das Gemeinsame aus Erbe und Moderne definiert.

Die Begegnung von Alt und Neu ist gelebte Realität. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, außer man hängt einem romantischen Ideal nach, das ebenso illusorisch wie unattraktiv ist. Eine Situation wie vor Jahrhunderten kann den Anforderungen einer modernen Gesellschaft wohl kaum standhalten.

Als Kommunalpolitikerin bin ich täglich mit den Anforderungen, Wünschen, Erwartungen und Ansprüchen der Menschen konfrontiert. Ich sage daher aus Erfahrung und Überzeugung: Es kann nur durch ein gutes,

qualitätsvolles und tragfähiges Miteinander zwischen Alt UND Neu gehen.

Ich möchte diesen Umstand sogar als „Europäische Tugend“ bezeichnen. Wir sind damit aufgewachsen. Wir sind daran gewöhnt, und wir sind auch stolz darauf. Wir freuen uns auf diesen Aspekt unserer europäischen Welt, wenn wir aus fernen Ländern von einer Geschäfts-, Dienst- oder Urlaubsreise heimkommen.

Alt und Neu sind das Wesen des Europarates

Meine Damen und Herren, die Ebene des Europarates ist genau die richtige Plattform für eine solche konstruktive Auseinandersetzung, wie wir sie hier und heute gemeinsam beginnen. Da es uns um Alt UND Neu, um Erbe UND Moderne geht, ist dieses Forum zusammengesetzt aus den verschiedensten Vertretern aus Politik, Verwaltung, Denkmalschutz, Architekten, Universitätslehrern, Studierenden, Vertretern der Bürgerschaft, Journalisten, Architekturkritikern, Stadtplanern, Architekturtheoretikern etc.

Es ist eine „bunte Mischung“, wie man salopp sagt. Das spiegelt das hervorragende Wesen des Europarates wider, der 800 Millionen Menschen und 47 Mitgliedsstaaten vereinigt.

Das „Zusammenspiel von Alt und Neu“ wäre ein guter Ausgangspunkt dafür. Und damit komme ich wieder auf mein Eingangszitat zu sprechen: Statt das Alte zu vergöttern und das Neue zu verteufeln, oder umgekehrt, können wir hier und heute den Grundstein legen für eine neue Sicht der Dinge, für ein Miteinander: Alt UND Neu, Erbe UND Moderne, Tradition UND Fortschritt.

Es kann uns gelingen, das „Sowohl – Als Auch“ in der Vordergrund zu rücken und nicht das „Entweder - Oder". Innsbruck ist ein guter Platz dafür. Lassen Sie es uns versuchen – ganz im Geiste des Europarates!

Es kann uns gelingen, wenn wir ehrlich miteinander umgehen, offen kommunizieren und das Gemeinsame vor das Trennende stellen.

Innsbruck trägt seit 1964 den Ehrentitel „Europastadt“. Als Verbindungspunkt zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West begreifen wir unsere besondere geographische Lage als Verpflichtung und Verantwortung. In unserer typischen und besonderen Art und Weise nehmen wir unsere Rolle als Stadt der

Begegnung im Herzen Europas gerne wahr.

Ich freue mich auf eine interessante, konstruktive und herausfordernde Auseinandersetzung mit unserem Thema, das aus verschiedenen Aspekten beleuchtet und diskutiert werden wird.

Ich ersuche Sie um Ihre aktiven und kritischen Beiträge dazu, die uns hoffentlich in der Gesamtschau der Referate zu einem „Innsbrucker Memorandum“ führen. Dieses könnte seinerseits den Weg zur weiteren Diskussion bereiten.

Ich wünsche uns allen ein gutes Gelingen, gute Gespräche und viel Erfolg bei der Auseinandersetzung über moderne Architektur und historisches Erbe. Alles Gute!